„Die SPD hat ihre gestaltende Rolle in der Friedensfrage verloren“

Michael Müller im Interview über das Manifest zur Friedenssicherung in Europa

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Frieden ist nicht alles – aber ohne Frieden ist alles nichts." Dieses Zitat von Willy Brandt steht gleich auf der ersten Seite des neuen „Manifestes“ der SPD-Friedenskreise – einem Gremium, in dem sich auch die NaturFreunde Deutschlands über Fragen der SPD-Friedenspolitik beraten. Unter den Erstunterzeichnenden: Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands.

Das Manifest (hier als PDF-Download) ruft dazu auf, aus der Geschichte zu lernen und neue Wege für eine nachhaltige Friedensordnung in Europa zu entwickeln – jenseits militärischer Logik und nationaler Reflexe. Dabei fordert es eine Rückbesinnung auf das Prinzip der Gemeinsamen Sicherheit, wirbt für Diplomatie statt Konfrontation und stellt kritische Fragen zur aktuellen Aufrüstungslogik.

Im Interview erklärt Michael Müller die Beweggründe hinter dem Manifest, seine Erwartungen an die Politik und warum heute die Friedens- und Entspannungspolitik der Maßstab für Vernunft und Verantwortung sein muss.

Michael, du bist einer der Erstunterzeichner des Manifestes „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“, das gerade die öffentliche Debatte aufmischt. Was wollen die Unterzeichner*innen erreichen?

Michael Müller: Entscheidend ist, dass in der SPD wieder eine Diskussion über die Friedens- und Entspannungspolitik geführt wird. Das wollen wir mit dem Manifest anstoßen. Es geht uns nicht um eine einmalige Aktion, sondern um die Wiederherstellung der Debatte über eine zentrale Zukunftsfrage, nämlich die Verhinderung einer erneuten Dynamik der militärischen Aufrüstung, die immer teurer und immer weniger korrigierbar wird.

Ihr knüpft an die friedenspolitischen Initiativen der Sozialdemokratie der 1970er- und 1980er-Jahre an?

Ja, die waren nämlich sehr weitblickend – für Deutschland, Europa und auch die UNO. In der damaligen Zeit der Blockkonfrontation und der atomaren Hochrüstung wurden die Systemunterschiede so natürlich nicht beseitigt, aber die Aufrüstung wurde gestoppt und es wurden mehr Gemeinsamkeit möglich gemacht. Für Gorbatschow war das alles eine wichtige Voraussetzung für seine Perestroika.

Nach dem historischen Jahr 1989 gab es im Westen – wie der englische Romancier John le Carré festgestellt hatte – einen falschen Triumphalismus nach dem Motto „Wir haben gewonnen“, „Wir haben immer Recht!“. Diese Haltung hat unter anderem dazu geführt, dass notwendige Reformen und eine Weiterentwicklung der Entspannungspolitik nicht mehr stattfanden.

Auch in der SPD hat das zu einer programmatischen Entleerung geführt. Die SPD hat in den letzten Jahren nicht mehr den breiten Diskurs in der Gesellschaft organisiert, der gerade in der Friedenspolitik unbedingt notwendig ist. So ist auch die SPD zu einer Partei des bloßen Mainstreams geworden, in dem alles „alternativlos“ ist und hat in der Folge ihre gestaltende Rolle in der Friedensfrage verloren.

Wie bewertest du die Bandbreite der Reaktionen auf das Manifest?

Die Reaktionen machen deutlich, dass wir verlernt haben, schwierige Fragen offen und aufklärerisch zu debattieren. Das ist, was ich kritisiere. Es gab auf das Manifest zum Teil unterirdische Reaktionen. Aber es gab auch viele positive Reaktionen.

Gut finde ich, dass die Jusos die Kritik an der Erhöhung der Rüstungsausgaben zu ihrer Sache machen wollen. Und es ist auch toll, dass nur innerhalb eines Tages rund 6.000 zustimmende Unterschriften aus der SPD eingegangen sind. Trotz mancher abfälligen Kommentare ist das ein Zeichen, dass wir einen Nerv getroffen haben. Und die Unterschriften zeigen, dass wir – im Gegensatz zu den Mandatsträgern – an der Basis viel Zustimmung finden.

Warum betont das Manifest so stark die Rückkehr zum Prinzip der Gemeinsamen Sicherheit?

Die Leitidee der Gemeinsamen Sicherheit ist zuerst eine Zustandsbeschreibung. Denn trotz aller Unterschiede in Weltanschauungen, Macht, wirtschaftlicher Stärke oder Systemen ist im Atomzeitalter der Gegner bei der Verhinderung der atomaren Katastrophe auch ein Partner – aufgrund der katastrophalen Folgen einer atomaren Auseinandersetzung. Ein heutiger Einsatz von Atomwaffen bedeutete zum Beispiel das Vielfache der atomaren Strahlung von Tschernobyl.

Es geht also um eine Menschheitsfrage, die ein neues Denken verlangt. Wie wir wissen, ist seit der Kuba-Krise von 1962 die Welt mindestens fünfmal knapp an einem Atomkrieg vorbeigerutscht. Es waren persönlicher Mut und das Misstrauen gegenüber angeordneten Befehlen, die dabei den Druck auf den Einsatzknopf verhindert haben.

Umso mehr brauchen wir eine Gemeinsame Sicherheit, zumal die heutigen Militärstrategien auf das „Blindmachen“ der Abwehrsysteme ausgerichtet sind. Das erhöht die Gefahr von Erstschlägen.

Welche Risiken siehst du in der aktuellen sicherheitspolitischen Orientierung der Bundesregierung?

Die für Sommer 2026 geplante Stationierung neuer, auch atomar bestückbarer Mittelstreckenraketen in Süddeutschland – insbesondere das Dark-Eagle-System mit seiner bis zu 17-fachen Schallgeschwindigkeit und Flugeigenschaften, die vom Radar nur schwierig zu erfassen sind – haben den strategischen Charakter von Erstschlagwaffen. Und sie haben eine Reichweite, die weit über Moskau hinausgeht. Das macht Deutschland im Kriegs-, ja schon im Spannungsfall, zu einem vorrangigen Angriffsziel.

Die Bundesregierung hat sich damit auch in eine totale Abhängigkeit vom amerikanischen Verteidigungsministerium begeben. Im Gegensatz zu den Pershings der 1980er-Jahre ist die Aufstellung der Mittelstreckenraketen diesmal nicht mit der proaktiven Forderung verbunden, die Aufstellung russischer Raketen zu stoppen oder zu verhindern. Es ist eine einseitige Aktion, über die allein der US-amerikanische Präsident entscheidet.

Das Manifest kritisiert auch die „auf Jahre festgelegte Erhöhung des Verteidigungshaushaltes auf 3,5 oder 5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes“.

Sollte die Trump-Forderung nach 5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für das Militär, die von den europäischen NATO-Staaten ja fast widerspruchslos aufgegriffen wird, tatsächlich umgesetzt werden, muss Deutschland pro Jahr rund 230 Milliarden Euro für das Militär ausgeben. Das ist in etwa die Summe, die in den letzten Jahrzehnten in Deutschland insgesamt pro Jahr für Innovationen und die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ausgegeben worden ist. Letzteres wäre dann jedoch immer weniger möglich, obwohl unser Land dringend darauf angewiesen ist. Die Auswirkungen der Klimakrise würden sich so sehr schnell zuspitzen.

Ich frage aber auch grundsätzlich, was das Ziel der gewaltigen Aufrüstung sein soll. Die europäischen NATO-Staaten geben schon heute mehr Geld für das Militär aus, als der gesamte russische Staatshaushalt ausmacht. Allein Deutschland und Frankreich geben heute mehr für das Militär aus als Russland unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft. Und Deutschland lag im letzten Jahr auf Platz 4 im weltweiten Länderranking der höchsten Militärausgaben. Soll das immer so weitergehen?

Und was bedeutet es, wenn neben Russland auch China und weitere Staaten der BRICS-plus-Gruppe zum Systemeigener werden, gegen die dann aufgerüstet werden soll? Die NATO soll nach ihren eigenen Plänen ja zu einer globalen Militärmacht werden.

Das Manifest fordert zudem, nach einem Schweigen der Waffen wieder ins Gespräch mit Russland zu kommen.

Es gehört zum bitteren Versagen der Europäischen Union, drei Jahre keinen konkreten Friedensplan vorgelegt zu haben. Das belastet mich, weil wir vor allem an die Opfer des Krieges denken müssen. Die meisten EU-Staaten sind heute quasi zur Kriegspartei geworden, was ihren Einfluss auf Putin senkt. Sein Angriffskrieg ist natürlich nicht zu rechtfertigen. Faktisch hat er aber auch zu einer Verfestigung der Fronten geführt.

Gibt es gerade irgendeine diplomatische Initiative, an die du konkrete Hoffnungen knüpfst?

Man sollte die Friedensvorschläge der Regierungen Indiens, Chinas, Brasiliens und Südafrikas nicht immer gleich als ungeeignet abtun, sondern genauer prüfen. Die Welt hat sich verändert, die europäische Welt hat erheblich an Bedeutung verloren. Das muss berücksichtigt werden. Es sollte deshalb versucht werden, eines der starken B(R)ICS-Länder als Vermittler für einen Friedensplan zu gewinnen.

US-Präsident Trump will ja immer nur Deals machen. Bei mir schwindet deshalb die Hoffnung, dass er eine Friedenslösung erreichen kann.

Was glaubst du, wie das Manifest den SPD-Parteitag Ende Juni beeinflussen wird?

Das hat es schon, denn die Parteiführung sucht nach Wegen, wie eine Konfrontation vermieden werden kann. Die Presseresonanz ist sehr groß. Mehr noch die Reaktionen in der SPD, wobei sich ein deutlicher Unterschied zwischen Mandatsträgern und Basis zeigt. Das Manifest soll auf dem Parteitag nicht zur Abstimmung stehen, sondern die weitere Debatte prägen. Die SPD muss nach den ernüchternden Ergebnissen bei der Europa- und der Bundestagswahl zu einer offenen und mutigen Debattenkultur zurückfinden. Sonst besteht die Gefahr, dass sie im Umfrageloch bleibt.

Was möchtest du den Menschen mitgeben, die aktuell zwischen dem Wunsch nach Frieden und dem Bedürfnis nach Sicherheit hin- und hergerissen sind?

In unserem Zeitalter der Atomwaffen, in dem auch Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Drohnen und Raketen eine neue brutalste Kriegsführung möglich machen, muss die Friedens- und Entspannungspolitik der Maßstab für Vernunft und Verantwortung sein.

Albert Einstein hatte Recht: Unsere Zeit braucht ein neues Denken, das – um es mit den Leitideen der UNO zu beschreiben – Nord-Süd-Solidarität, Gemeinsame Sicherheit und Nachhaltigkeit miteinander verbindet.

Und nicht zuletzt hatte auch der frühere Bundeskanzler und NaturFreund Willy Brandt Recht: Krieg ist nicht die ultima ratio, sondern die ultima irratio.

Interview Samuel Lehmberg